asgairsson de

Der "Ur-Derrick"
der circa 1973 von Guđmund Asgairsson geschrieben wurde
und aufgrund seiner stilprägenden Elemente stets als Vorlage für sämtliche Episoden der beliebten Serie diente.

Zuerst: Der Vorspann

   
  Heute: Die Episode
"Tod eines Mordopfers"
 
     
derrick
Eine Fliege krabbelt über die Nase des Mädchens, das im Wald liegt. Ein Mann läuft durch diesen Wald; er schlägt sich querfeldein durch das Unterholz. Der feuchte Boden schmatzt unter seinen Schuhen. Er tritt auf das Mädchen, das er nicht herumliegen sah, und glitscht aus. Der Mann stürzt. Mit kurzen Schlägen reinigt er seinen weißen Anzug vom gröbsten Schmutz, während er sich umdreht. Er sieht das Mädchen, kniet sich hin, fühlt keinen Herzschlag mehr, sieht allerdings noch die Fliege offensichtlich verärgert davonbrummen und spricht: „Sie ist tot.“ Er – der Mann – überlegt, ob er sich einmal an der Leiche vergehen soll; er hatte neulich in einer psychologischen Zeitschrift über dieses Thema etwas gelesen und anschließend bei einer Karaffe Cognac mit seinem Alter Ego darüber philosophiert.
Schließlich jedoch sind seine moralischen Bedenken und Hemmungen stärker als sein Trieb. Stattdessen holt der Mann aufstehend sein Handy aus der Sakkotasche und tippt eine Telefonnummer, die er auswendig kann.
„Ja gut, wir kommen sofort“, schnarrt Stefan Derrick in den Telefonhörer, bevor er dem fragend dreinschauenden Kommissar Klein, der, eine braune Lederjacke tragend, im Büro herumsteht, die Weisung erteilt: „Harry, hol‘ schon mal den Wagen!“ Harry geht hinaus, Derrick legt den Hörer in die Gabel und draußen gewittert es.
Bremsen quietschen. Bei strahlendem Sonnenschein hält der Wagen am Waldrand. Derrick und Harry steigen aus, gehen in den Wald und begrüßen dort den Mann. Das Mädchen liegt immernoch genauso da, was Harry zu der Bemerkung, die er Derrick ins Ohr flüstert, veranlaßt: „Du, Stefan, ich glaub‘, sie ist tot.“
Stefan kniet nieder, stellt den Tod des Mädchens fest und sagt: „Sie ist tot.“
„Sie ist tot?“ fragt der Mann ungläubig.
„Tot“, raunt Harry.
„Ja, ich sagte: ,Sie ist tot.‘“, wiederholt Derrick energisch.
Berger erscheint plötzlich. „Sie ist tot“, spricht Derrick zu ihm, „ihr könnt sie mitnehmen.“ Aus dem Dickicht preschen zwei Männer mit einem Sarg hervor, um darin das tote Mädchen zu verstauen. Währenddessen bittet Derrick den Mann, morgen früh im Präsidium zu erscheinen; schließlich hat er am Nachmittag noch genug zu tun: er fährt zu den Angehörigen, deren Adresse er sofort weiß.
Vor einer riesigen weißen Villa steht Derricks Wagen. Drinnen, im Wohnzimmer, sitzt auf einem weißen Ledersofa die Mutter der Toten und raucht. Derrick sitzt ihr in einem weißen Sessel gegenüber, hinter ihm steht Harry Klein auf dem weißen Teppich. An der weißen Tür, direkt neben der Hausbar, lehnt lässig der Bruder des Mädchens. Hektisch schenkt er sich ein Wasserglas mit Whiskey voll – Whiskey mit EY, den er sich höchstselbst aus Irland mitgebracht hat – und leert es in einem Zug. Ex oder Scheiße, denkt er.
„Sie ist tot“, sagt die Mutter dauernd.
„Hat man den Täter schon gefunden? Was war sein Motiv?“ fragt der Bruder.
„Hatte ihre Tochter Feinde?“ will Derrick wissen.
„Natürlich hatte sie Feinde“, ruft zürnend der Bruder, „jeder hat Feinde. Es ist unmöglich, eines jeden Menschen Freund zu sein.“
derrick, klein und berger
Wie alles bei Asgairsson hat auch dieses Bild einen Cyan-Stich. Hier sehen wir Harry Klein, Derrick himself und den legendären Berger bei den Ermittlungen.
„Ja, ich weiß“, gurrt Derrick. Er steht auf, bedankt sich für den Tee, den die aus dem ehemaligen Ostblock stammende Haushälterin soeben hereinbringen will, verabschiedet sich höflich und verläßt mit Harry das Anwesen. Als sie wegfahren sehen sie den Bruder saufend am Fenster stehen.
Es ist wieder Nacht geworden. Wie immer wacht Derrick allein in seinem grünen Büro. Nur die Schreibtischlampe brennt. Derrick wartet auf die entscheidende Eingebung, oder darauf, daß ihn mal jemand anruft. Nachts telefonieren ist billiger, außer Sondernummern. Als er sich ein paar Thesen zurechtgelegt hat, kommt Harry rein, denn es ist plötzlich neun Uhr.
„Hast du gestern im Wald den Gesichtsausdruck des Mannes gesehen?“ fragt Derrick ihn.
„Ja, Stefan; ich glaube, er wollte sich an dem toten Mädchen vergehen“, antwortet Harry.
„Genau, Harry.“
„Aber, Stefan“, fügt Harry an, „wir dürfen auch nicht ihren Bruder außer acht lassen. Er war gleich so aggressiv, und er trinkt.“
„Das ist mit auch aufgefallen – er trinkt“, pflichtet Derrick ihm bei, noch nicht ahnend, daß das der Schlüssel zur Lösung des Falles sein könnte. Könnte, aber nicht muß. Plötzlich klopft es und Harry erschrickt wie Sau. Die Tür öffnet sich einen Spalt und Berger steckt sein dickes Gesicht in Derricks Zimmer. Feierlich spricht er die bedeutenden Worte: „Er ist da.“ Dann zieht er seinen Kopf zurück, öffnet die Tür ganz und der Mann betritt den Raum. Harry springt auf und schließt die Tür. Der Mann setzt sich, Harry setzt sich auch und der bereits seit Stunden sitzende Derrick fragt den Mann, wobei er seinen rechten Zeigefinger drohend hebt: „Sie wollten sich gestern an der Toten vergehen, oder etwa nicht?“
Der Mann wird rot und stammelt: „Ja, ähem, ja doch.“ Dann gewinnt er wieder Fassung und fährt, ebenfalls den Zeigefinger erhebend, fort: „Hab‘ ich aber nicht gemacht. Getötet hab‘ ich sie auch nicht. Sie lag schon tot da rum. Auf Wiedersehen!“ Der Mann steht auf und geht.  
„Stefan, hast du gesehen, wie er den Zeigefinger gehoben hat?“ fragt Harry.
„Ja, Harry, ich habe gesehen, wie er den Zeigefinger gehoben hat“, antwortet Derrick.
„Stefan, er ist sich seiner Sache ganz schön sicher“, bemerkt Harry.
derrick mit kanone
Da kennt er keinen Spaß: Niemand verarscht Derrick.
„Er ist nicht der Mörder“, stellt Derrick fest. Danach wiederholt er seine eben geäußerte These einfach nochmal: „Er ist nicht der Mörder“, und läßt Harry den Wagen herbeiholen: „Harry, hol‘ schon mal den Wagen!“
„Gern, Stefan, aber wieso?“
„Wir müssen den trinkenden Bruder noch einmal besuchen.“
„Dir gefällt seine philosophisch-melancholische Art; hab‘ ich recht, Stefan?“
„Ja, Harry; seine Art gefällt mir.“ Sie verlassen gemeinsam das grünstichige Büro.

Sie sitzen in den weißen Möbeln, der Bruder trinkt Whiskey, Derrick trinkt Wasser und Harry wartet im Wagen. Der Bruder und Derrick waren sich gerade über die Unmöglichkeit einig geworden, es stets allen recht machen zu können, als ganz unerwartet das weiße Telefon im Wohnzimmer klingelt. Der Bruder stürzt zum Apparat und Derrick macht große Augen.
„Für Sie, Herr Oberinspektor“, sagt der Bruder, reicht Derrick den Hörer und schenkt sich eilig nach. „Ich weiß, wer der Mörder ist“, wispert eine anonyme Männerstimme am anderen Ende der Leitung, „kommen Sie heute um 23 Uhr in die Bar ,Chantal‘.“
„Ja, Chantal, 23 Uhr. Ich werde dort sein“, sagt Derrick und legt auf. Er verabschiedet sich und steigt zu Harry in den Wagen.
„Und, Stefan, hast du was rausbekommen?“ will Harry wissen.
„Ja, Harry, das habe ich. Um 23 Uhr muß ich in der Bar ,Chantal‘ sein; dort werde ich erfahren, wer der Mörder ist.“
Harry nickt bewundernd und bis 23 Uhr fahren beide durch die Stadt. Es regnet natürlich.
Es ist genau 23 Uhr, als Stefan und Harry das Lokal betreten. Die Beleuchtung spielt ins Rötliche, dezente Musik, die sofort als Komposition von Frank Duval zu erkennen ist, erfüllt den Raum und auf der Bühne bewegt sich lasziv eine Nackttänzerin. Die Besucherzahlen halten sich deutlich in Grenzen. Zielstrebig steuert Derrick auf den Barkeeper zu, während Harry sich an einen leeren Tisch setzt und alles im Auge behält.
Sie haben mich angerufen“, spricht Derrick mit erhobenem Zeigefinger zu dem Barkeeper.
„Ja“, antwortet dieser und fährt, den Tränen nahe, fort: „ich halt’s nicht mehr aus! Ich kann nicht mehr! Ich bin schuld an ihrem Tod!“
„Erzählen Sie“, fordert Derrick.
Der Barkeeper stützt die Ellenbogen auf den Tresen und legt sein Gesicht in seine Hände. Derweil betritt eine neue Nackttänzerin die Bühne und Harry wischt sich den Schweiß von der Stirn. Der Barkeeper berichtet: „Ich hatte eine schwere Kindheit. Meinen Vater lernte ich nie kennen und meine Mutter...“ Er schluchzt. „Und dann dieses Mädchen. Vorgestern kam sie hierher und wollte was trinken. Sie konnte aber nicht bezahlen und darum habe ich ihr nichts zu trinken gegeben.“
Derrick hakt nach: „Sie gaben ihr nichts? Ließen das Mädchen allein mit seinem Durst?“
„Ja, das ist es ja. Dann ging sie zum Verdursten in den Wald, denn sie wollte allein sein.“ Mit Mühe den Satz beendet, bricht der Barkeeper in Tränen aus. Derrick nickt vielsagend Harry zu, der daraufhin aufsteht.
derrick ermittelt
Leitende Angestellte der Chantal-Bar bei der Arbeit.
 

Abspann

 
  ... natürlich mit einer Komposition von Frank Duval:  
   
     
  Text © 2010 by asgairsson.de